PARFORCE DE CORSE
Korsika ist nach Sizilien, Sardinien und Zypern zwar nur die viertgrößte Insel im Mittelmeer, aber aus keiner anderen wachsen so viele Berge. Doch auf welche Teile der Insel konzentriert man sich, wenn man nur vier Tage Zeit hat? Die Antwort ist einfach: Auf alle.
Die Fähre von Livorno nach Bastia bietet in gewisser Weise eine fabelhafte Gelegenheit, das innere Empfinden für das Verhältnis von Distanz zu Reisetempo auf die Gegebenheiten der wilden Insel einzupegeln. Korsika liegt mindestens 83 Kilometer vom italienischen Festland entfernt, für die bemerkenswert kurvenarme Strecke braucht die Fähre rund viereinhalb Stunden. Ebenfalls 83 Kilometer sind es an der breitesten Stelle Korsikas von der West- an die Ostküste – Luftlinie, versteht sich. Doch will man bei der Überquerung der Insel mit dem Motorrad denselben Reiseschnitt erreichen wie unser dicker gelber Dampfer, sollte man wissen, wie man Kurven zügig fährt. Und keine Sightseeing-Pläne haben.
Korsika ist ein gigantischer Felsen im Meer, der aus stellenweise 2500 m Meerestiefe ans Licht strebt und hier seine zahllosen Spitzen aus dem Wasser streckt. Weit mehr als fünfzig Berge der Kategorie 2000+ drängeln sich auf der Insel dicht aneinander, am höchsten hinaus schießt dabei der Monte Cinto im Nordwesten, dessen Gipfelkreuz auf 2706 Metern steht. Will man die Topografie Korsikas mit wenigen Worten beschreiben, hat man es mit »zerklüftet, verwinkelt, schwer zugänglich« schon recht gut auf den Punkt gebracht. Etwas prosaischer könnte man auch sagen: »Spektakuläre Schluchten verlieren sich zwischen bizzaren Felswänden, dunkle Wälder aus gigantischen Schwarzkiefern versperren enge Täler, durch die tosend brutale Wasser rauschen.« Doch wie auch immer man es beschreiben will: So oder so ist Korsika ein Paradies für die Freunde ehrgeizigen Straßenbaus.
Von dem wir direkt am ersten Tag eine Kostprobe nehmen, wenn auch nur eine kleine. Die Gipfel ringsum verschwinden hinter bleiernen Wolken, als wir uns am frühen Nachmittag vom Fährhafen in Bastia auf den rund einstündigen Weg zu unserem Hotel nach Corte machen. Corte liegt im tiefsten Herzen der Insel, ist schon uralt und war vor gut zweieinhalb Jahrhunderten mal eine Zeit lang die Hauptstadt Korsikas. Zwar musste sie diesen Rang längst an Ajacchio an der Südwestküste abtreten, funktioniert jedoch im Sommer mit ihrer spektakulären Lage und ihrer malerischen, von hohen Bergen umrahmten Altstadt am Fuße der Zitadelle noch immer tadellos als Touristenmagnet. Aber jetzt ist es Ende April, die Osterferien sind schon vorbei, und so gehört Corte vor allem den rund 7500 Einwohnern sowie fast 5000 Studierenden, die hier Korsikas einzige Uni besuchen.
Abgelenkt vom Ambiente der schönen alten Stadt biege ich im Ortskern direkt falsch ab und so landen wir mitten auf dem Place Paoli, wo sich zahlreiche Restaurants und Cafès rund um einen streng dreinblickenden Herrn aus Granit versammelt haben, der auf Korsika nicht nur wegen seines hohen Sockels über allen anderen steht. Die Korsen verehren Pasquale Paoli als »Babbu di a Patria«, als »Vater des Vaterlandes«, seitdem er als Kommandant an der Spitze der korsischen Guerilla die Genueser von der Insel jagte, im Jahr 1755 die Unabhängigkeit ausrief und dann dafür sorgte, dass Korsika sich eine demokratische Verfassung gab. Die erste demokratische Verfassung im Zeitalter der Aufklärung übrigens, die Jahrzehnte später sowohl die Verfassung der Vereinigten Staaten wie auch Frankreichs inspirieren sollte. Nach ihrem Rausschmiss verloren die Genueser die Lust an der widerspenstigen Insel und verkauften Korsika an die Franzosen, der formale Anschluss an Frankreich erfolgte dann im Jahr 1790 zu Beginn der Französischen Revolution, also vor mehr als 230 Jahren. Doch ist es bis heute außerordentlich schwierig, einen Korsen zu finden, der das akzeptiert.
Nachdem wir kurz im Hotel eingecheckt haben, sitzen wir auch schon wieder auf den Motorrädern und suchen den Abzweig ins Restonica-Tal. Obwohl der Himmel nicht dazu einlädt, wollen wir uns diese Perle heute noch gönnen, schließlich gehört das enge Sträßchen, das schon am Ortsrand von Corte beginnt und sich dann über 15 Kilometer zwischen Felsen und Fluss rund tausend Höhenmeter bergauf schlängelt, zweifelsohne zu den schönsten Sackgassen Europas.
Heute allerdings gehört sie sicher auch zu den schlüpfrigsten, zumindest auf den Streckenabschnitten, die durch den dichten Wald führen. Dort ist der Weg stellenweise gepflastert mit matschigen Nadelteppichen, Pampelmusen-großen Kiefernzapfen und all dem anderen Ballast, den die riesigen Schwarzkiefern abschütteln. Außerdem rauscht im oberen Teil immer wieder Wasser über den dort nur noch spärlichen Asphalt, es gibt also Gründe genug, den Blick nicht von der Straße zu nehmen. Doch fällt das außerordentlich schwer, denn die spektakuläre Landschaft ringsum legt sich wirklich mächtig ins Zeug, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Wir schaffen es heil bis zum Parkplatz der kleinen Bergerie de Grotelle, von dort geht es jetzt nur zu Fuß weiter hinauf zu den beiden Bergseen Lac de Melo und Lac de Capitello. Wie grandios die Aussicht hier oben höchstwahrscheinlich ist, lässt sich heute bestenfalls erahnen, viel zu tief hängen die Wolken. Und weil jetzt auch der Regen einsetzt, kehren wir direkt wieder um und lernen nun jede Kurve von einer ganz anderen Seite kennen. Wir kommen wieder, wenn die Wolken sich verzogen haben.
Tag 1: Corte – Belgodére – L’lle Rousse – Calvi – Galéria – Ota – Corte / 268 km
Auf knapp sechseinhalb Stunden Fahrzeit taxiert das Navi die Etappe des nächsten Tages, die uns in einem großen Donut durch den Nordwesten der Insel führen wird, gut hundert Kilometer Küstenstraße inklusive. Doch weil digital vermessene Theorie und analog asphaltierte Praxis auf Korsika bisweilen gewaltig auseinanderklaffen, sitzen wir nach einem knappen Frühstück schon früh hinterm Lenker und freuen uns über den strahlend blauen Himmel. Unser erstes Ziel ist der kleine Ort L’lle Rousse an der Nordwestküste, und der Weg dorthin beginnt im flotten Walzertakt. Mit ihren weiten Kurven erlaubt die gut ausgebaute T 20 zügiges Vorankommen und längere Blicke auf das gewaltige Massiv des Monte Cinto, dass sich links von uns in den Himmel türmt.
In Ponte Leccia nehmen wir den Abzweig auf die T 20, um dann kurze Zeit später auf die RT 301 nach Belgodére abzubiegen. Diese »Route Territoriale« ist ein gutes Stück schmaler und weit weniger gut gefegt als die Nationalstraße, außerdem haben ihre Erbauer scheinbar keine Gelegenheit ausgelassen, den Verlauf möglichst kurvenreich an die aufgewühlte Topografie anzuschmiegen – es ist die pure Wonne. Und verlangt volle Aufmerksamkeit, denn auch ein frisch asphaltierter Abschnitt ist kein Garant dafür, dass der Belag hinter der nächsten Kurve nicht ganz unvermittelt wieder sehr rustikal ausfallen kann – der ständige Wechsel ist hier die einzige Konstante. Und vielleicht noch all die Schweine, Ziegen, Kühe oder Schafe, denen die Korsen offenbar ebenfalls sehr weitreichende Freiheitsrechte zugestehen. Es ist jederzeit eine Option, auf der Ideallinie plötzlich einer wilden Sau zu begegnen – bei entsprechender Schräglage sogar Auge in Auge.
Um es an dieser Stelle vorwegzunehmen und damit ich mich nicht ständig wiederholen muss: Dieser Straßenzustandsbericht gilt quasi für die gesamte Insel. Das Straßennetz auf Korsika umfasst rund 8000 Kilometer, bei nicht mal 600 davon sprechen wir von gut ausgebauten Nationalstraßen, der Rest ist – schlichtweg spektakulär! Dass außerhalb der Ortschaften auf der gesamten Insel ein Tempolimit von 80 km/h gilt, kann bestenfalls auf der T 10 ein Thema werden, die an der Ostküste den Norden recht gradlinig mit dem Süden verbindet und – Achtung: wichtiger Hinweis! – großzügig mit fest installierten Radarkontrollen ausgestattet ist. Ansonsten wird man seine liebe Not haben, die erlaubten achtzig Sachen überhaupt zu erreichen. Man ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich ständig hin und her zu schmeißen und oft genug dreht man den Hahn allein schon deshalb kurz zu, um sich einen der zahllosen grandiosen Ausblicke für einen Moment länger zu gönnen. Das passiert quasi ständig und so lauert auch hier wieder die latente Gefahr, durch die atemberaubend schöne Natur ringsum vom Wesentlichen abgelenkt zu werden. Aber das ist nur im Inselinneren so ausgeprägt. Wenn man dann ans Wasser stößt, wird‘s schlimmer.
Denn im Westen stürzen sich die Berge überaus waghalsig ins Meer. Allerdings nicht etwa nur stellenweise oder auf einem besonderen Abschnitt, vielmehr ist nahezu die gesamte Küstenlinie auf dieser Seite der Insel wie eine endlose Felswand, an deren äußerstem Rand bisweilen hoch über der Brandung eine Straße in den Stein getrieben ist – wie auch immer man das angestellt hat. Tief unten sind in malerischen Buchten immer wieder kleine Strände zu sehen, ebenso unerreichbar wie dekorativ, doch uns zieht heute ohnehin nichts in die rauschende Brandung. Längst sind wir in einem ganz anderen Rausch, denn anders lässt sich die Kurvenorgie entlang dieses mediterranen Breitwand-Panoramas wohl kaum beschreiben. Besonders groß sind die Glücksmomente, wenn man an einer exponierten Stelle einen weiten Blick die Küstenlinie entlang erhaschen kann und auch in der Ferne noch die dünne Linie der Straße erkennt, die sich an der Felswand abzeichnet. Es scheint kein Ende zu nehmen.
Unterbrochen wird der Spaß nur, wenn sich ein kleiner Ort in den Weg schiebt. Größere Orte gibt es hier ohnehin nicht, unser erstes Pausenziel Calvi schafft es mit nicht einmal 6000 Einwohnern bis auf Platz fünf der größten Städte der Insel. Am Fuße der gewaltigen Zitadelle gönnen wir uns einen Café au Lait und genießen die Gewissheit, dass sich die lange Anreise allein schon wegen dieses halben Tages gelohnt hat. Doch erst die D 81 B, die unmittelbar im Ortskern beginnt und dann an der Küste entlang bis nach Galéria führt, sollte es uns richtig besorgen.
Denn die schmale Strecke wird nun noch etwas montaner, teilweise ist das Meer gefühlt nur eine Armlänge entfernt, allerdings schwindelerregend weit unten. Kurve reiht sich an Kurve, wir fahren fast ausschließlich im zweiten und dritten Gang, schon den vierten braucht hier kein Mensch.
Nur rund vierzig Kilometer sind es bis Galéria, für die wir mit einer kleinen Pause etwa anderthalb Stunden brauchen, und mir dämmert so langsam, dass unser Plan nicht aufgehen wird. Der sieht eigentlich vor, dass wir die »Calanche di Piana« zum Sahnehäubchen des Tages machen, denn das Felslabyrinth aus rotem Granit dreihundert Meter über dem Meer ein kleines Stück hinter Porto soll ein ganz besonderes Highlight Korsikas sein. Doch sind es bis dahin noch rund siebzig Kilometer, und da die Straße keinerlei Anstalten macht, uns zur Abwechslung mal mit einer längeren Geraden zu überraschen, kann ich mir leicht ausrechnen, dass es später Nachmittag sein wird, wenn wir den Golf von Porto erreichen. Von dort müssen wir dann allerdings noch weitere achtzig Kilometer durch die Berge zurück nach Corte.
Um es kurz zu machen: Schon in Porto sind wir restlos kurvensatt. Wir wedeln durch dichten Eukalyptuswald runter ans Meer und lassen uns von dem Anblick überwältigen, den der Golf von Porto seinen Besuchern bietet. Vollkommen zurecht hat die UNESCO diesen Küstenabschnitt schon vor Jahrzehnten zum Weltnaturerbe erklärt, es gibt schlicht keinen schöneren Ort auf der Insel, um seine Tourenpläne über den Haufen zu werfen. Denn wollen wir uns nicht in der Finsternis durch die Berge kämpfen – Kurvenlicht hin oder her –, müssen wir uns die Calanche schenken.
Doch werden wir für diesen herben Verzicht unmittelbar reich entschädigt. Der einzige Unterschied zwischen der Küstenstraße und dem Weg durch die Berge zurück nach Corte ist der Verlust des Meerblicks. Dafür haben wir schon kurz hinter dem Lac de Calacuccia den Golo eng an unserer Seite, einen zornigen Wildwasserfluss, der sich über runden Fels seinen Weg durchs Gebirge bricht. Der Golo gehört zu den meist befahrenen und schwierigsten Wildwassern Korsikas, doch ist es kein Stück weniger aufregend, dicht neben der Felswand auf dem Motorrad an seinen Ufern zu kleben und sich mit ihm gemeinsam ins Tal zu stürzen. Das ist ebenso hin- wie mitreißend, denn wir unterbieten die vom Navi für die gut achtzig Kilometer prognostizierte Zeit um eine glatte halbe Stunde. Das formidable Wildschweingulasch im Restaurant »U Museu« in Corte am Abend ist jedenfalls wohlverdient. Und die perfekte Krönung dieses Tages.
Tag 2: Corte – Bastia – Barcaggio – St. Florent – Corte / 285 km
Abgesehen von der eher zügigen Fahrt über die T 20 nach Bastia verspricht der heutige Tag eine Doublette des gestrigen zu werden. Erneut zieht es uns an die Küste, denn wir wollen heute das Cap Corse umrunden, also den prägnanten Zeigefinger im Norden der Insel, der steil nach oben zeigt. Direkt hinter Bastia schmiegt sich die Straße hart ans Wasser, wobei die Kurven hier an der Ostküste etwas runder und weiter ausfallen. Typische Landmarken auf Korsika sind die vielen Wachtürme, die zumeist von den Genuesen errichtet wurden, man findet sie an den Küsten der gesamten Insel. Nirgends sonst jedoch in einer solchen Dichte wie am Cap Corse, gefühlt steht auf jeder dritten Landzunge einer dieser steinernen Aufpasser – vielleicht erwartete man damals hier oben die meisten Attacken.
Tatsächlich stand Korsika seit eh und je im Fokus von Eroberern, eigentlich schauten sie alle mal vorbei: Nach Karthagern, Griechen und Etruskern waren die Römer an der Reihe, danach prügelten sich Vandalen und Goten um die Insel, auch Byzantiner, Langobarden, Sarazenen und Franken versuchten hier Fuß zu fassen. Letzten Endes mussten sie alle wieder abziehen, denn stets konnten sie sich bestenfalls an den Küsten festsetzen. Jeder Versuch, ins Innere der Insel vorzudringen, scheiterte an der wilden Bergwelt ebenso wie am zähen und klugen Widerstand des Inselvolks, das alle topografischen Trumpfkarten in der Hand hatte. Erst als die Franzosen dann zwei Millionen Franc locker machten, um die Insel von den Genuesen zu übernehmen, und mit gleich 20.000 Mann anrückten, wurde die Übermacht zu groß. Ein guter Moment, um einen kurzen Witz einzustreuen, den man in einer korsischen Kneipe allerdings besser nicht erzählen sollte: »Hab‘ gestern in Korsika angerufen – war wieder mal besetzt.“
Doch genug der Historie, was uns jetzt viel mehr interessiert, ist der kleine Abzweig nach Luri, den wir nicht verpassen möchten. Wir wollen Gael Mayeur einen spontanen Besuch abstatten, der tief versteckt in der Macchia besondere Klingen schmiedet. Messer verbindet man ebenso mit Korsika wie die Blutrache, auch wenn letztere seit dem 19. Jahrhundert eigentlich nicht mehr als lokales Brauchtum gepflegt wird.
Früher jedoch sollen die blutigen Fehden zwischen den Familien dem Bestatter-Handwerk eine zuverlässige Auftragslage beschert haben, da konnte schon der Diebstahl eines Hahns zu einem jahrelangen Streit der Sippen führen, an dessen Ende – der Fall ist belegt – 40 Todesopfer zu beklagen waren. Bisweilen endete so manche Vendetta erst, als nur noch einer der Familie übrig war und der Sippe die Rächer ausgingen. Allein im 18. Jahrhundert kosteten diese besonderen Umgangsformen rund 30.000 Korsen das Leben, kein Wunder also, dass das raue Inselvolk sich einen Ruf erwarb, der in Europa ziemlich einzigartig war: blutrünstig, rachsüchtig, ehrversessen, unzivilisiert und – wie uns Asterix gelehrt hat – leicht beleidigt.
Kein Stück beleidigt ist allerdings Gael Mayeur, als wir ihn in seiner Schmiede aufscheuchen. Vielmehr stehen sichtbare Fragezeichen über seiner Stirn, wie ihn zwei Motorradfahrer aus Deutschland hier im korsischen Nirgendwo fernab der befestigten Straßen überhaupt finden konnten – bis wir ihn dann an seine Internetseite erinnern. Gern zeigt er uns seine Werkstatt, in der allerdings unsere Hoffnung, ihm beim Schmieden zusehen zu können, sogleich zunichte gemacht wird, nicht mal ein Feuer brennt.
Dafür zeigt er uns eine Auswahl seiner Werke, erzählt davon, wie er das alte Gemäuer zwischen jahrhundertealten Eichen und Kastanien gemeinsam mit seinem Freund und Partner Gabriel Navarro restauriert hat, um an diesem verzauberten Ort Messer zu schmieden. So schön all seine typischen Klappmesser auch sind, fällt mir besonders ein großes, feststehendes Messer ins Auge, für das es in unserer Küche zahllose Einsatzmöglichkeiten gibt. Schon als ich es zum ersten Mal sah, wusste ich, dass es in meinem Tankrucksack verschwinden wird. Platz ist dort jetzt allein deshalb, weil das Portemonnaie ein Stück dünner worden ist.
Wir kehren zurück an die Küste, halten uns wieder Richtung Norden und stehen schon bald an der nördlichsten Spitze Korsikas im kleinen Ort Barcaggio. Doch hier halten offensichtlich alle gerade Siesta, kaum eine Menschenseele ist zu sehen, mit Glück ergattern wir einen kühlen Drink am kleinen Hafen, bevor uns die Straße an der Westküste dann wieder Richtung Süden bringt. Unser nächstes Ziel heißt Saint-Florent am südwestlichen Ende des Fingers, das aufgrund seines opulenten Yachthafens auch das korsische Saint-Tropez genannt wird. Bis dahin sind es rund 70 Kilometer, und weil sich die Küstenstraße hier ebenso bizarr zeigt wie gestern, sind große Teile des Nachmittags damit quasi verplant.
In Saint-Florent lösen wir uns von der Küste, um dann auf der Route zurück nach Corte durch den Nordwesten der Insel den Nationalstraßen aus dem Weg zu fahren. Zwar liegt unser Hotel nur etwa rund 60 Kilometer entfernt, im korsischen Hinterland brauchen wir dafür jedoch zwei volle Stunden, und so steigen wir wie am Vortag erst nach elf Stunden leicht schwankend aus dem Sattel. So müssen sich Matrosen fühlen, die nach langer Seefahrt wieder festen Boden unter den Füßen haben. Nach einer schnellen Pizza fallen wir in unsere Betten.
Tag 3: Corte – Ghisoni – Zicavo – Zonza – Sari-Solenzara – Aleria – Corte / 275 km
Die Sonne bleibt uns weiterhin treu, und so werden wir uns heute vor allem den Bergen im Inselinneren widmen. Doch wir beginnen den Tag direkt mit einem Fehler, denn obwohl unser Routenplan heute etwa so lang ist wie am Tag zuvor, machen wir zunächst erneut einen Abstecher ins heute sonnendurchflutete Restonica-Tal – liegt ja vor der Haustür. Und so erleben wir das zauberhafte Tal heute in voller Pracht, bleiben – angemessen überwältigt – immer wieder stehen, um Fotos zu machen und lassen am Ende hier volle zwei Stunden liegen. Die uns am Ende des Tages fehlen werden.
Dabei kommen wir auf dem ersten Stück gut voran, biegen erst kurz hinter Vivario von der Nationalstraße auf die deutlich kleinere D 69 nach Ghisoni ab und steigen damit wieder ein ins montane Kurvenkarussell. In den folgenden Stunden wird deutlich, wie ursprünglich Korsika noch ist. Gerade mal 350.000 Menschen leben auf der großen Insel, rund die Hälfte davon allein in und um Ajaccio und Bastia. Der Rest verteilt sich bevorzugt an den Küsten, und so schwingen wir durch eine nahezu menschenleere Bergwelt und freuen uns wie Bolle, dass auf Korsika die kürzeste Verbindung von A nach B stets eine Kurve ist. Immer wieder tauchen wir in den dichten Wald ein, der hier seinen ganz eigenen Zauber hat. Dominiert wird er von korsischen Schwarzkiefern, gewaltigen Baumriesen mit bis zu 50 m hohen Kronen, deren mächtige Stämme dicht an dicht stehen und die Straße zu einem Slalom-Parcours mit recht adipösen Stangen machen. Spuckt uns der Wald einmal aus, ist der Blick wieder frei auf die Berge, die auch hier am Himmel zu kratzen scheinen.
Der Monte Inducine bei Zicavo ist mit 2134 m der südlichste Zweitausender der Insel, in seinem Schatten müssen wir uns nun entscheiden: Stoßen wir noch weiter nach Südwesten vor bis ans Meer? Oder streichen wir den Küstenort Propriano aus dem Tourplan und biegen hier schon ab nach Zonza am Fuße des Bavella-Massivs? Bei der Entscheidung helfen uns zwei Blicke: der auf die Uhr und der in den Himmel, denn weit im Süden ziehen dicke Wolken auf. So programmieren wir unsere Navis um und wechseln in Aullène auf die D 420, die uns windungsreich über Quenza nach Zonza bringt. Von dort geht es dann über die D 268 zum nächsten Zwischenziel.
Berge gibt es auf Korsika ja in Hülle und Fülle, die Aiguilles de Bavella, also die Bavella-Nadeln, ragen jedoch in besonderer Weise heraus. Nicht etwa wegen ihrer Höhe, die längste ihrer sieben Spitzen endet schon bei 1855 m, doch ist der Anblick dieser gewaltigen Türme aus Granit wirklich majestätisch. Der gern bemühte Vergleich mit den Dolomiten drängt sich förmlich auf, hier werden tatsächlich Erinnerungen an die letzte Sella-Runde wach.
Am Col de Bavella schraubt sich die Straße bis auf gut 1200 m, auf der Passhöhe zaubern wir am Fuße der Marienstatue Notre Dame de la Neige – die Dame soll vor Gefahren im Gebirge schützen – Baguette und Wildschweinsalami aus unseren Koffern. Doch weil wir auch kauend den Blick nicht von den Bergen nehmen können, erkennen wir früh, dass die Spitzen nach und nach in den Wolken verschwinden – es zieht sich zu. Wir wollen auf jeden Fall vor der langsam nordwärts ziehenden Front bleiben, brechen das Picknick ab und machen uns auf den Weg nach Sali-Solenzara an der Ostküste. Der Weg dorthin führt überwiegend durch den monumentalen Wald, vor uns liegen also erneut rund 50 Kilometer Riesenslalom, und so erreichen wir die Ostküste erst am frühen Abend.
Und damit einen etwas weniger spektakulären Teil der Insel, denn im Gegensatz zur Westküste erhebt sich Korsika an dieser Seite – Cap Corse mal ausgenommen – eher sanft aus dem Meer, die Straßenbauer hatten hier leichtes Spiel. Weil es zurück nach Corte noch fast hundert Kilometer sind, machen wir es uns auf der gern als Küstenautobahn bezeichneten T 10 gemütlich, die uns zügig durch die weiten Ebenen von Korsikas Obst- und Gemüsegarten trägt. Es geht vorbei an intensiv bewirtschafteten Plantagen und Äckern, ganz sicher der langweiligste Abschnitt des Tages, hier zählt allein der schnelle Raumgewinn. Erst in Aléria biegen wir auf die großzügig ausgebaute T 50 ab, die uns in weiten Schwüngen wieder in die Berge trägt. Als wir mit den Motorrädern in die Garage unseres Hotels rollen, haben wir erneut elf Stunden im Sattel gesessen. Und sind trocken geblieben.
Tag 4: Corte – Bonifacio – Sartène – Porticcio – Cauro – Corte / 385 km
Noch ein letzter Fahrtag bleibt uns auf Korsika, den wir zunächst so beginnen, wie der gestrige endete. Wir nutzen erneut die T 10, um möglichst schnell an die Südspitze der Insel nach Bonifacio zu kommen. Die Altstadt der südlichsten Gemeinde Korsikas ist auf einem zur Küste steil abfallenden Kalk- und Sandsteinfelsen erbaut, die Häuser an der Kante kleben rund 70 Meter senkrecht über dem Meer am Felsen und bieten einen Anblick, der im gesamten Mittelmeerraum wohl einzigartig ist. Genau deshalb ist Bonifacio auch die meistbesuchte Stadt Korsikas, selbst außerhalb der Ferienzeit sind hier alle Parkplätze voll. Wir wagen uns nur kurz in die engen Gassen der Altstadt, die auch heute von Touristen geflutet sind, in den zahlreichen Restaurants und Cafés scheint kein Platz mehr frei zu sein.
Der Trubel ist eher abschreckend, und so gönnen wir uns aus der Ferne einen Blick auf die Felsenstadt und steuern dann Sartène an, mit ihren dicht an dicht stehenden, uralten Häusern und den verwinkelten Gassen die angeblich korsischste aller korsischen Städte, die in herrlicher Panoramalage über dem Rizzanese-Tal einen weiten Blick über den Golf von Valinco bietet. Doch auch dort nehmen wir nur einen schnellen Drink in einem kleinen Straßen-Café noch vor den Toren der Stadt, bei dem wir dann erneut unseren Tagesplan kippen. Denn eigentlich standen neben Bonifacio auch Sarténe und die Inselhauptstadt Ajaccio – immerhin der Heimatort Napoleons – für heute auf unserem Besichtigungsprogramm, aber wollen wir unsere letzten Stunden auf Korsika wirklich mit Sightseeing verplempern? Viel lieber lassen wir uns durch die auch hier dicht bewaldete einsame Bergwelt treiben, füttern das Navi immer wieder neu mit kleinen Bergdörfern und lassen uns dann überraschen, über welche Pfade uns der Satellit dorthin bringt. So können wir Korsika auch noch einmal tief einatmen, denn ein weiteres Highlight vor Ort ist ohne Zweifel der betörende Duft der mediterranen Flora, der uns nun schon seit Tagen begleitet.
Rund die Hälfte der Insel wird von der immergrünen Macchia bedeckt, die man wohl am besten als dichten Buschwald beschreiben kann. Eine Etage darunter – aber nicht weniger struppig – wächst die sogenannte Garigue und macht die Vegetation endgültig undurchdringlich. Die Aromen der vielen ölhaltigen und stark duftenden Pflanzen und Kräuter liegen wie ein unsichtbarer Nebel über dem Land und machen jeden Atemzug zum olfaktorischen Hochgenuss. Napoleon hat sich einmal damit gerühmt, er könne seine Heimatinsel mit geschlossenen Augen allein an ihrem Duft erkennen. Um ehrlich zu sein, kann ich darin keine große Leistung erkennen, denn dasselbe würde ich von mir nach nur vier Tagen behaupten. Dieser Duft ist unbeschreiblich, deshalb versuche ich es auch erst gar nicht. Das muss man sich im wahren Wortsinn irgendwann mal selbst reinziehen.
Nachdem wir ein paar Stunden mit wechselnden Zielen durchs südwestliche Hinterland mäandert sind, erreichen wir bei Porticcio wieder die Küste. Auf der anderen Seite der großen Bucht lässt sich massive Bebauung erkennen, im Licht der Nachmittagssonne leuchtet Korsikas Hauptstadt Ajaccio aus der Ferne. Doch schon hier ist der Verkehr so dicht, dass uns endgültig jede Lust auf die große Stadt abhandenkommt. Und weil wir uns in den letzten Stunden in der Bergwelt des Südwestens ohnehin schon auf Straßen dritter Ordnung schwindelig gefahren haben, überlassen wir uns wieder einmal der komfortablen T 20, die auf dem Weg nach Corte zubereitet ist wie ein gut ausgebauter, rund achtzig Kilometer langer Alpenpass, der sich nicht entscheiden kann: rauf oder doch lieber runter? Auf diesem letzten Stück des Tages genießen wir leider auch schon die letzten Kilometer unseres Korsika-Intensiv-Trips, denn am nächsten Tag müssen wir nur noch den kurzen Weg zur Fähre nach Bastia schaffen. Danach haben wir dann rund 1400 Autobahn-Kilometer lang Zeit, wieder in die Realität zurückzufinden – auch wenn‘s schwerfallen wird.
Doch würde ich auch eine doppelt so lange Anreise in Kauf nehmen, um Korsika noch einmal auf dem Motorrad zu erleben. Sicher mit etwas mehr Zeit, denn um einen Eindruck von der gesamten Insel zu gewinnen, saßen wir in vier Tagen rund 45 Stunden latent berauscht im Sattel, obwohl wir in dieser Zeit nur etwas mehr als 1200 Kilometer Asphalt unter uns durchgezogen haben. Dass Korsika gemeinhin auch »Insel der Schönheit« genannt wird, ist ohne jeden Zweifel vollkommen angemessen. Denn den Besucher erwartet ein Füllhorn an überwältigenden Gebirgslandschaften in atemberaubend schöner Natur, garniert mit paradiesischen Stränden, spektakulären Küsten und reichlich historischer Bausubstanz. Das Ganze auch noch durchzogen von einem Straßennetz, dass auf dem Kontinent – Alpen hin, Pyrenäen her – seinesgleichen sucht. Ein wahrhaft gesegnetes Fleckchen Erde und zweifellos der mit Abstand bezauberndste Teil ganz Frankreichs.
So würden die Korsen ihre Insel allerdings eher nicht beschreiben …