WILD BILL

Als in Amerika die Möglichkeiten noch unbegrenzt waren, baute sich William „Wild Bill“ Gelbke ein Motorrad, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte.

„Die Kraft des Genies wächst mit dem Umfang der Dinge“, hatte Tacitus schon vor knapp zweitausend Jahren erkannt. Dass man das mit der Kraft auch ganz anders verstehen kann, stellte vor rund 60 Jahren William Gelbke – von seinen Buddies nur „Wild Bill“ gerufen – unter Beweis, wobei schwer zu sagen ist, ob er die Schriften des alten Römers tatsächlich kannte. Gar so unwahrscheinlich ist es allerdings nicht.

Denn der 1938 in Green Bay, Wisconsin geborene Gelbke hatte an der University of Wisconsin Elektrotechnik und Maschinenbau studiert und war nach dem Studium nach Kalifornien gezogen, um dort als Flugzeugingenieur zunächst bei McDonnell Douglas und später bei Hughes Aircraft anzuheuern. Sein erster Job war die Entwicklung einer Blackbox zur Steuerung von Torpedos auf Atom-U-Booten, ein gefragter Fachmann wurde er dann in der Entwicklung von Leitsystemen für Boden-Luft-Raketen. Zweifelsohne stand dem Jung-Ingenieur eine glänzende Karriere bevor, doch war Gelbke offenbar ein höchst eigensinniges Genie. Denn als ihm bei seiner Arbeit die Einsicht in die kompletten Pläne für den Bau der Raketen selbst verwehrt wurde, quittierte er beleidigt den sicheren Job, zog von Los Angeles nach Chicago und eröffnete dort die „Gelbke Motorcycle Company“. Und er machte sich daran, seine eigene Boden-Boden-Rakete zu bauen: Roadog.

»Wenn du es träumen kannst, kannst du es auch bauen.«

In den USA schraubte die Szene damals noch getreu dem Motto: „Wenn du es träumen kannst, kannst du es auch bauen“. Auch Gelbke träumte. Und er träumte schwer. Deshalb war bei der Arbeit an seinem „Straßenköter“ tatsächlich von Beginn an ein Genie mit Kraft gefragt, denn was er zwischen 1962 und 1965 auf zwei Räder stellte, sprengte alle Dimensionen. „Wild Bill“ hatte nach eigener Aussage eine Vision von den Motorrädern der Zukunft gehabt, doch behielt er für sich, unter dem Einfluss welcher Droge das geschah. Rasch formte sich aus dieser Vision eine Idee: Gelbke wollte das größte Motorrad aller Zeiten erschaffen und begann umgehend mit dem Bau. Tatsächlich vergeudete er keine Zeit mit Plänen oder Blaupausen, sondern verließ sich allein auf seine Vorstellungskraft – und fing einfach an.

Als Antriebsquelle wählte Gelbke den 2,4 l großen Vierzylinder aus dem Chevrolet Nova II und übernahm auch dessen Antriebsstrang. Hinzu gesellte sich ein Zweigang-Powerglide-Automatikgetriebe samt Rückwärtsgang, welches er an ein modifiziertes Ein-Tonnen-Chevy-Truck-Differential andockte. Den riesigen Rahmen baute er aus Chrom-Molybdän-Rohren, wie sie zu der Zeit nur im Flugzeugbau verwendet wurden. Als er fertig war, stand am Ende die für ein Motorrad abstruse Gesamtfahrzeuglänge von 5,20 Metern, womit Roadog nicht nur die Ausmaße einer recht brauchbaren Straßensperre hatte, sondern auch gut einen halben Meter länger war als der Chevy, der den Motor spendete. Acht Zentner schwerer geriet das Zweirad außerdem, doch verkommt das bei dem Gesamtgewicht von gut 1,6 Tonnen zur Randnotiz.

Kurvige Bergstrecken waren der Endgegner

Allein die Vorderradlast von 850 Kilo machte es unmöglich, im Stand den Lenker zu drehen, es brauchte schon ein Tempo von mindestens 15 km/h, bevor man Roadog in eine andere Richtung lenken – besser: ausrichten – konnte. War das rollende Ballungsgebiet dann einmal in Fahrt, galt es eine fahrwerkskompatible Route zu wählen, denn der Wendekreis von 33,5 Metern machte kurvige Bergstrecken zum Endgegner, zum Wenden empfahl sich der Parkplatz einer Shopping Mall.

Mindestens ebenso problematisch war es, Roadog beim Anhalten auszubalancieren, einmal der Schwerkraft nachgegeben, war das Monstrum nicht zu halten. Doch reichte offensichtlich auch hier die Kraft des Genies für den Umfang der Dinge, denn das Gelbke Roadog sehr wohl allein mit der Kraft seiner Schenkel abstützen konnte, beweist das große Bild auf dieser Doppelseite. Da ist nichts zu sehen von den vier hydraulischen Stützen, die er bequem über einen Schalter ausfahren ließ, wenn er sein Ungetüm abstellen wollte.

Mehr als drei Jahre schraubte Gelbke an Roadog, dessen recht archaischer Look leicht darüber hinwegtäuschte, dass manch innovative Komponente darin steckte: So war Roadog das erste Motorrad mit einem Automatikgetriebe, das erste mit einem Doppelscheinwerfer, das erste mit Scheibenbremsen und das erste mit einer Anti-Dive-Gabel – die hydraulischen Ständer lassen wir mal außen vor.

Rund 40.000 Dollar hatte „Wild Bill“ in den Bau von Roadog investiert, was durchaus fraglich erscheint, denn für dieselbe Summe hätte er sich zu der Zeit auch ein Dutzend fabrikneue Corvette Stingray V8 Fastback-Coupes in die Garage stellen können (Listenpreis 1965 2947 Dollar). Doch hätten die Stingrays auch im Rudel nicht annähernd denselben Aufmerksamkeitswert erzielt wie sein Schwellenleger.

Berichte von Roadog-Sichtungen gab es im ganzen Land

Mit dem sich Gelbke dann auch gleich auf den Weg machte. Schon im ersten Jahr trieb er den Kilometerstand über die 20.000 Meilen-Marke und bereiste bevorzugt die Südstaaten der USA, doch gab es auch glaubhafte Berichte von Sichtungen in Los Angeles und New Jersey. Bald schon tauchte Roadog angeblich überall und nirgends auf, wurde so zur rollenden Saga und begegnete in der öffentlichen Wahrnehmung dem Monster von Loch Ness oder dem Yeti auf Augenhöhe. Das Unglaublichste an der ganzen Geschichte jedoch: Gelbke fand für seine ausufernde Vision vom Motorrad der Zukunft tatsächlich einen Kunden. So baute er das gesamte Trumm noch einmal und nannte es „Buldog“ – es gibt also zwei von der Sorte.

Dabei beließ es Gelbke dann aber auch, zumal er neue Pläne hatte. Ihm schwebte ein etwas alltagstauglicheres Motorrad vor, das sich leichter in Großserie produzieren lässt. Auch bei der Konstruktion dieser von ihm „Auto Four“ getauften Maschine wählte er erneut einen Vierzylinder-Automotor als Kraftquelle, dieses Mal den 50 PS starken 80 ci-Vierzylinder (1275 ccm) aus einem Mini-Cooper, kombiniert mit einem 4-Gang-Automatikgetriebe. Den Rahmen baute er natürlich selbst und bediente sich ansonsten wieder in den Regalen der Automobilindustrie, den Sattel und viele Anbauteile besorgte er sich bei Harley-Davidson, den Kardan klaute er bei einer R 75/5.

So gelang es ihm, das Gewicht der Auto Four auf nur rund 700 Kilo zu drücken, und tatsächlich bescheinigten zeitgenössische Tester dem adipösen Cruiser allerhöchsten Touringkomfort, bemängelten allerdings das Handling im Stand. In der Frage, wie viele Exemplare Gelbke von der Auto Four insgesamt baute, sind die Quellen sich nicht einig, es waren wohl zwischen fünf und neun – weit entfernt von einem Durchbruch. Immerhin schien er auf dem richtigen Weg zu sein, schließlich hatte er Gewicht, Gesamtlänge und Hubraum jeweils mehr als halbiert. Hätte er in dieser Richtung weitergearbeitet, wäre sein dritter Wurf womöglich massenkompatibler geraten, aber das kann man heute bestenfalls vermuten. Denn am 17. November 1978 starb William „Wild Bill“ Gelbke im Kugelhagel.

Er lebte zu der Zeit auf einer Farm in der Nähe seiner Heimatstadt Green Bay und war dort mit Arbeiten an einem alten Schuppen beschäftigt, als ihm der laut bellende Hund des Nachbarn auf die Nerven ging. Um den Kläffer ruhigzustellen, feuerte er mit seiner Pistole ein paar Kugeln in die Luft, was die Nachbarn wiederum dazu bewegte, die Cops zu rufen. Als die vor Ort eintrafen, umstellten sie den Schuppen und forderten Gelbke auf, seine Waffe herauszuwerfen. Über den weiteren Gang der Dinge gibt es unterschiedliche Versionen, denn während der Polizeibeamte Jack Nagel später zu Protokoll gab, Gelbke habe als erster das Feuer eröffnet, berichteten andere beteiligte Cops, Gelbke habe die Waffe herausgeworfen, dann sei Nagel auf dem Eis ausgerutscht und hingefallen. Ungeachtet dessen glaubten in dem Moment viele der anderen Beamten, dass Nagel angeschossen worden sei, eröffneten das Feuer auf Gelbke und trafen ihn mehrfach. Nagel wurde umgehend ins Krankenhaus gebracht, während man bei Gelbke zu dem Schluss kam, dass der zwar noch lebte, aber wohl keine Chance mehr habe. Also ließ man ihn liegen und verbluten.

Die Grenzen des Machbaren neu ausgelotet

So endete die Karriere des wohl hemmungslosesten amerikanischen Motorrad-Konstrukteurs seiner Zeit ebenso spontan wie tragisch. Mit nur zwei Modellen hatte William Gelbke die Grenzen des auf zwei Rädern Machbaren neu ausgelotet, dabei wollte er nach eigener Aussage „einfach nur große und zuverlässige Motorräder aus Teilen bauen, die man überall finden konnte“. Dass er sich in den USA damit selbst zur legendären Figur machen würde, hatte er wohl nicht im Sinn.

Roadog ist heute im Besitz eines Sammlers in Wisconsin, Buldog steht im National Motorcycle Museum in Anamosa, Iowa. Ab und zu taucht bei einer Auktion auch eine seiner seltenen Auto Four auf, die dann meist für eine stolze Summe den Besitzer wechselt und immer wieder daran erinnert, dass die Motorräder von William „Wild Bill“ Gelbke keine Hirngespinste sind – auch wenn sie alles dafür Erforderliche mitbrachten.

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG brachte meine Geschichte über William „Wild Bill“ Gelbke und seinen „Roadog“.

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